Was zählt

Die Silhouette eines Jungen springt über Felsen im Meer

Jump von Erik via Flickr, CC BY 2.0-Lizenz.

Achtung, schwere Kost! Warum ich beim NaNoWriMo keinen Roman schreibe und die Frage danach, was wichtig ist im Leben.

Gestern Nacht, es war wohl schon halb drei und ich versuchte seit mehr als zwei Stunden den Schlaf zu finden, da stand mir die Angst bis an den Hals. Na prima, konnte ich gerade noch denken, jetzt hast du mich ein paar Jährchen atmen lassen und ich habe die Zeit nicht genutzt, um mein gestörtes Verhältnis zu Leben und Tod in Ordnung zu bringen. Oder herauszufinden, ob das überhaupt geht.

Und während ich im Dunklen beobachte, ob mir gleich die Luft ausgeht, durchzuckt mich ein Verlangen, genau darüber weiter zu schreiben. Über den ganzen Wahnsinn, der mich schüttelt seitdem ich atme. Ohne weitere Begründung oder Hoffnung einfach losschreiben und mir nicht die übliche Frage stellen, ob der Tod schneller sein wird als ich.

Nach diesem Impuls ist klar, dass es nichts wird mit dem Krimi, den ich beim NaNoWriMo schon registriert hab, für den bereits die Figuren, der Plot und eine Szenenfolge im Block stehen. Dieser Krimi, den ich in anderer Form schon geschrieben habe, würde mir wahrscheinlich schnell aus den Fingern fließen, deshalb hab ich ihn ja für die 30 Tage November gewählt. Machbar. Und er hätte mit mir zu tun. Doch er hat nicht genug mit mir zu tun.

Also setze ich mich auf im Bett, knipse das Licht an, hole Kladde und Stift, schreibe auf, was mich bewegt. Ich erkenne, spät aber früh genug, dass die letzten Monate, Wochen, Tage, nicht spurlos an mir vorübergegangen sind. Wie sich eins zum anderen fügt, mein Wunsch nach autobiografischem Schreiben kein Zufall ist.

Aktuell versuche ich beispielsweise in einem Essay für mein BKS-Studium meine persönliche Lebensphilosophie zu ergründen. Ich frage mich, warum ich überhaupt schreibe, wie ich meine begrenzte Lebenszeit nutze, was ich vom Leben erwarte. Und finde keine schnellen Antworten. Ich kann sie aber suchen.

In den letzten Monaten, unter anderem während meines Aufenthalts in Kalbe, habe ich mich mit schreibend einigen düsteren Kapiteln meines Lebens genähert. Wie so oft bewerte ich die Erfahrung ambivalent; manches habe ich schmerzhaft, anderes heilsam erlebt. Vor allem aber ist eine Fülle von Stoff nur roh bearbeitet, erst eine richtige Geschichte habe ich geschrieben. Da drängt noch vieles in mir, erzählt zu werden.

Parallel zu meinem eigenen Schreiben lese ich viel autobiografische Literatur, die mich berührt und beeindruckt. Darunter sind Klassiker wie Christa Wolfs Kindheitsmuster oder die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, die ich mit einigen Jahren/Jahrzehnten der Distanz ganz anders lese. Eine ganz neue Welt autobiografischen Erzählens entdecke ich gerade mit Pam Houston, deren Geschichten mich einfach nur bezaubern. Mein Lesetipp für den anstehenden Winter.

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Ja, ich will den NaNoWriMo für solche Erzählungen über mein Leben nutzen, sie brennen mir unter den Nägeln. Gestern Nacht auf der Bettkante entwarf ich siebzehn Kapitel/mögliche Geschichten. Als ich fertig war, hatte sich die Angst verpisst. Ich rechne fest mit ihrer Wiederkehr und bete doch, dass sie mich im November verschont. Falls ich euch zur Mitte und Ende des Monats einen Lagebericht schuldig bleibe, könnte es keinen Gott geben. Übrigens, auf der NaNoWriMo-Webseite habe ich mein Genre geändert und mein Arbeitstitel heißt jetzt: Sollbruchstelle.

Zum Schluss ein paar ernst gemeinte Fragen. An euch, liebe Schreibende: Wie wichtig ist euch, WAS ihr schreibt? Was ist besser, das Leben oder die Fiktion? Was schreibt sich einfacher, das Leben und die Fiktion? Und an alle: Was ist euch wichtig im Leben?

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19 Gedanken zu „Was zählt

  1. Liebe Amy,
    auch mir ging es so: dieser Post war anders. Ich habe ihn in meinem Urlaub vor 2 Wochen zum ersten Mal gelesen und hatte Tränen in den Augen: Soviel Ehrlichkeit, Kraft, Klarheit, Entschlossenheit. Und dann war sie da, Deine Kraft, der Atem (!!). Und Deine Fragen! Die habe ich erstmal mitgenommen.
    Mir ist wichtig, was ich schreibe und dass ich schreibe. Ich schreibe ja ungefähr seit Februar die Morgenseiten. Darin ist das DASS wichtiger als das Was. Jeden Tag mit mir Kontakt aufnehmen, schreibend erkunden, wie es mir geht, was da gerade in mir rumort. Manchmal tut mir das nicht gut, dann schreibe ich mich immer tiefer in eine Abgrundspirale hinein. Dann käme Fiktion mal ganz gelegen.
    In der Fiktion kann ich mich neu erfinden, kann ich die (eigene) Geschichte anders ausgehen lassen, Seiten von mir zum Vorschein bringen, die vielleicht nur im Dunkeln und allein zu sehen sind. Und wenn ich darüber schreiben kann, dann sind sie ja auch irgendwo in mir – oder? Das ist die philosophische Frage, die mich gerade beschäftigt: Kann ich mich immer wieder neu erfinden, auch im echten Leben? Habe ich unendlich viele Möglichkeiten?
    Manchmal dachte ich: Ich schreibe überhaupt keine Fiktion. Es ist immer MEIN Leben, bloß durch ganz entfernte Blickwinkel, dunkle Brillen oder verspielte Hände. Vielleicht liegt in der Fiktion doch mehr Befreiung als im autobiografischen Schreiben? Das weiß ich alles noch gar nicht, aber das macht auch nichts. Auf dem Schreibweg sein. Einer Spur folgen – das mag ich total! Das wird meine nächste Blog-Serie.
    Was ist mir wichtig?
    Authentisch sein – Werden, die ich bin. In Kontakt sein – mit mir und anderen. Mich spüren – meinen Körper, meine Gefühle, Haut und Haare. Tiefe, Wesentliches, Frieden. Freude – durch alle Schichten hindurch.
    Ich möchte Deine Geschichten lesen, liebe Amy. Die 17 Geschichten Deines Lebens. Egal wann. Schreib weiter, möchte ich Dir über die Schulter flüstern, don’t stop, keep going on.
    Herzlich
    Christiane

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    • Liebe Christiane,
      herzlichen Dank, dass auch du dir noch die Zeit nimmst (was sind das überhaupt für Uhrzeiten, zu denen du schreibst?), mir meine/unsere Fragen zu beantworten – sie sind ja nicht weniger aktuell als vor zwei Wochen. Spannend, dass du die Morgenseiten erwähnst. Denn meine Novembertexte schienen mir manchmal wie verkappte Morgenseiten, und natürlich schrieb ich mich in den Abgrund. Ich sagte Stopp!, nahm ein neues Kapitel und endete fast immer wieder im Schlamassel. Einen Schreibtag habe ich dann doch an jenem Krimi gearbeitet, mich in die Fiktion geflüchtet, aber schnell gemerkt, dass ich ja was anderes schreiben will.
      Spätestens seit deinen Fragen zu Lebensgeschichte und Fiktion merke ich, dass auch ich zweifle, dass sie zu trennen sind. Was die Sache für mich nicht einfacher macht: Warum gelingt es mir nicht, so locker zu schreiben, wenn ich weiß, es geht um mich? Vielleicht liegt es an meinem Wunsch, beim autobiografischen Schreiben die eine Antwort zu finden, es fühlt sich an, als hätte ich keine Wahl. In der Fiktion, auch wenn sie biografische Anleihen macht, entscheide ich mich für eine Antwort unter möglichen.
      Mir geht es wie dir, ich habe viel mehr Fragen als Antworten und taste mich vorsichtig durch die (Schreib)Welt. Ich freu mich sehr auf deine Blog-Serie und versuche derweil schreibend die „richtige“ Form für meine Lebensgeschichten zu finden.
      Bis ganz bald in Berlin, lG, Amy

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  2. Liebe Amy,
    bin grad eben erst auf diesen Post gestoßen und habe zunächst tief durchgeschnauft. Was sind das für Fragen an einem frühen Samstag morgen! Natürlich ist mir wichtig was ich schreibe, aber eigentlich ist mir noch wichtiger, dass ich schreibe. Ich bin versucht zu sagen, dass ich schreiben kann. Wobei dieses können jetzt nicht die Qualität des Schreibens meint, sondern einfach den Umstand, dass ich überhaupt meine Gedanken aufs Papier bannen kann,dass ich da keine Hemmungen habe, den Stift in die Hand zu nehmen und Blätter zu füllen. Es sind Selbstgespräche, die ich mit mir führe, wenn ich von mir schreibe. Natürlich hockt die IKS beim Schreiben mit auf der Schulter und kommentiert, aber aus den Tagebuchseiten hält sie sich weitgehend raus, die kriegt ja auch keiner zu sehen. Leben und Fiktion? Früher habe ich mich oft aus dem Leben in die Fiktion geflüchtet, mir Geschichten ausgedacht, wer ich alles wäre, wenn… Das fand aber nur im Kopf statt, aufgeschrieben habe ich diese fiktiven Lebensläufe nie, da war die IKS wohl zu stark. Das hat sich mit dem Älter werden verloren, irgendwann bin ich angekommen in meinem Leben und habe es angenommen, so dass die geträumte Identität nicht mehr nötig war, um zu überleben. Das wäre auch eine Antwort auf die Frage, was mir wichtig ist im Leben. Vor nicht all zu langer Zeit hätte ich noch gesagt, mir ist nur wichtig zu überleben. Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch, so meine ich es nicht. Ich bin keine potentielle Selbstmörderin gewesen. Es ging eher darum, mit den ganzen Beschädigungen und Verbiegungen aus der Kindheit ein eigenständiges, von früheren Prägungen und Prophezeiungen unabhängiges Leben zu führen. Also nicht nur zu funktionieren und die Träume/Alpträume von Eltern zu erfüllen. Sondern das eigene Potential zu entdecken, aus diesem Wust von zugemuteten Lebensunfähigkeiten heraus zu kommen. Auf diesem steinigen Weg bin ich ein Stück vorangekommen. Na ja, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann ist es mir wichtig, diesen Weg nicht aus den Augen zu verlieren und ihn trotz aller Beschwernis weiter zu gehen…. Mann, das ist wirklich schwere Kost…. Irgendwie kleine Vorübung für nächstes Wochenende an der ASH.
    Ach so noch zur Frage, was schreibt sich leichter: Fiktion oder Leben? In meinen fiktiven Figuren steckt oft auch ein Stück von mir. Aber das schreibt sich leichter, denn da kann ich Dinge ausleben, die im wahren Leben (noch) Wunschträume sind. Da bin ich meinen inneren Beschränkungen nicht so ausgeliefert.
    Liebe Amy, ich wünsche Dir von Herzen genug Platz und viel Luft zum Atmen.
    Bis nächstes Wochenende in Berlin
    Liebe Grüße
    Anne

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    • Liebe Anne,
      zuerst habe ich auch gestutzt, weil ich mich dunkel dran erinnerte, dass du gleich beim Veröffentlichen auf meinen Beitrag reagiert hattest. Doch eigentlich fühle ich mich eher geehrt, wenn du meinen Text zwei Mal neu liest und dann noch so offen, tiefgehend kommentierst. Dieser lange Weg zu uns selbst … es berührt mich, von deinem zu lesen, ich möchte Hurra rufen und mich verneigen, am allermeisten mir eine Scheibe abschneiden. Denn gerade gehe ich nicht, verharre müde am Wegesrand, unfähig nach Blumen im Jetzt zu suchen, und wie der Weg weitergeht, kann ich auch nicht erkennen, grauer Nebel darüber. Selbst das Schreiben erfüllt mich nicht wirklich, egal was ich schreibe. Darf ich nicht zu laut sagen, sonst stattet mir die Angst wieder einen Besuch ab.
      Heute hast du mich jedenfalls angestossen, in Bewegung zu bleiben, weiter zu schreiben, und seien es nur diese Blogkommentare. Fast juckt es mir jetzt in den Fingern, noch ein Geschichtchen zu erzählen.
      Ganz herzlichen Dank, ich freu mich auf unser Wiedersehen, Amy

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  3. Liebe Amy,
    oh, beim rumwandern auf diesem Blogpost und seinen Kommentaren stoße ich auf meinen eigenen von vor fast drei Wochen. Als ich heute morgen diesen Beitrag – wie ich meinte erstmals -las, kam er mir ein bisschen bekannt vor, aber richtig klick hat es nicht gemacht. Alterserscheinung? Nein, ich glaube einfach, dass Dein Post so mitreißend und anregend ist, dass er sich mit ein wenig Abstand wie neu liest.
    Liebe Grüße
    Anne

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